Atelier Materi ist seit einigen Jahren ein gern gesehener Gast auf diesem Duftblog. Die 2019 von Véronique Le Bihan gegründete Marke hat mich optisch wie olfaktorisch stets überzeugt – und das von Beginn an. Die wundervolle, klassische Linie hat im letzten Jahr Zuwachs von einer Kollektion an Extraits de Parfum bekommen, die ich euch ebenfalls hier präsentiert habe. Mit Vanille Carbone wächst das Portfolio des französischen Ästhetik-Labels auf ganze dreizehn Kreationen an – was ich schon ganz beachtlich finde.

Atelier Materi folgt einem klaren Anspruch: Jeder Duft widmet sich einem einzelnen, sorgsam ausgewählten Inhaltsstoff, der in all seinen Facetten interpretiert, abstrahiert und neu erfahrbar gemacht wird. Die Kreationen sind das Ergebnis langer Entwicklungsprozesse – geprägt von einem respektvollen Umgang mit Rohstoffen, handwerklichem Know-how und einer minimalistischen Ästhetik. Meine bisherigen Rezensionen verlinke ich euch im Folgenden:
- Atelier Materi mit Cacao Porcelana und Cuir d‘Iris – ästhetisch bis ins Detail
- Santal Blond, Peau d’Ambrettes und Poivre Pomelo von Atelier Materi – Duftendes Dreierlei
- Rose Ardoise von Atelier Materi – Blüte in Schiefergrau
- Cèdre Figalia von Atelier Materi – Harmonie und Eleganz
- Néroli Hasbaya – Die neuen Extraits de Parfum von Atelier Materi
- Burgundy Oud und Ambre Papier von Atelier Materi
Vanille Carbone – Vanille, neu gedacht
Natalie Gracia-Cetto gehört zu den ganz Großen der modernen Parfümerie. In Grasse geboren und bei Givaudan ausgebildet, vereint sie handwerkliches Können mit einer ganz persönlichen olfaktorischen Handschrift. Ihre Kompositionen wirken nie überladen, sondern stets durchdacht, strukturiert und sind oft von einer fast architektonischen Klarheit geprägt. Bei Aus Liebe zum Duft findet ihr Orange X Santal von Essential Parfums sowie Odeur 10, Radish Vetiver und Scent Four: Yoyogi von Comme des Garçons. Für Penhaligon’s soll sie Legacy of Petra geschaffen haben. Darüber hinaus war sie für Jean Paul Gaultier, Dior, Narciso Rodriguez, Tom Ford und viele weitere tätig.
Mit Vanille Carbone widmen sich Atelier Materi und Natalie Gracia-Cetti einer Grande Dame der Haute Parfümerie: der Vanille. Dabei handelt es sich nicht um eine weitere Variante gängiger Gewürzdüfte, sondern um eine radikale Neuinterpretation – jenseits von Patisserie-Klischees und cremiger Süße. Stattdessen steht hier die tiefschwarze Seite der Bourbon-Vanille im Zentrum: mit ihren kantigen, würzigen und modernen Facetten.
Die Vanille gehört zu den faszinierendsten Rohstoffen der Parfümerie. Gewonnen aus den fermentierten Schoten der tropischen Orchidee Vanilla planifolia, zählt sie zu den teuersten Gewürzen der Welt – und zu den vielseitigsten. Ihre Duftfacetten reichen von cremig-süß bis rauchig, von balsamisch-warm bis ledrig und dunkel. Die in Vanille Carbone eingesetzte Bourbon-Vanille stammt aus Madagaskar und ist für ihren runden, sinnlichen Charakter bekannt. Ihre Noten sind außerordentlich wandelbar: In Gourmand-Kompositionen wirkt sie weich und einhüllend, in modernen Varianten kann sie holzig, trocken oder sogar metallisch erscheinen.
Es ist fast egal, welche Rolle die Vanille in einem Parfum spielt – ob sie eine begleitende, untermalende Funktion hat oder als Protagonistin eines Dufts auftritt –, sie bringt immer Tiefe, Harmonie und Spannung in eine Kreation. In Vanille Carbone von Atelier Materi vereinen sich schwarzer Pfeffer, rosa Pfeffer, Leder, Weihrauch und ein Dreiklang aus Bourbon-Vanille, Vanille und Vanilleschote zu einer kraftvollen, facettenreichen und ausdrucksstarken Komposition.
Kühl, frisch und trocken startet Vanille Carbone in den Duftverlauf. Der Pfeffer zeigt eine sanfte, fast zitrisch anmutende Schärfe und vereint sich mit einer dezent rauchigen Weihrauchkühle zu einer wunderbaren Melange. Aus dieser schnuppere ich schon früh die feinen, würzigen Noten der Vanille heraus: pudrig, fast kristallin und mit diesen typischen olfaktorischen Facetten. Ein Hauch von Süße liegt in dem Duft – unterschwellig und zart, fernab von den klebrigen Gourmandnoten manch anderer Kreation, aber doch wahrnehmbar. Wer schon einmal an echter Vanille gerochen hat – frisch aus der Schote gekratzt oder als getrocknetes Pulver –, kennt diesen Geruch: dunkel, tiefgründig, schwer greifbar und faszinierend. Diese Nuancen nehme ich in Vanille Carbone wahr, allerdings in überraschend heller, transparenter und luftiger Form. Tatsächlich erinnert mich das Eau de Parfum an weißen Puder, an Talkum. Es besitzt mineralische, kalkige Noten, die der Vanille die perfekte Bühne bieten, um ihre so verführerischen und besonderen Facetten gekonnt auszuspielen. Gleichzeitig nehme ich auch glatte, glänzende Nuancen wahr, die verutlich dem Lackleder geschuldet sind.
Vanille Carbone von Atelier Materi ist kein alltäglicher Vanilleduft, sondern eine spannende und überraschende Interpretation dieses außergewöhnlichen Rohstoffs. Auch wenn ich zunächst eine tiefdunkle Komposition erwartet hatte – schließlich betont auch der Produkttext die „Tiefe einer schwarzen Vanilleschote“, „ihren tiefschwarzen Farbton“ sowie das Spiel mit „Licht und Schatten“ –, ist Vanille Carbone weit entfernt von den düsteren Noten eines Deep Dark Vanilla von D. S. & Durga. Ich empfinde die Kreation viel mehr als hell, transparent, luftig – durchzogen von dunklen Vanille-Sprenkeln. Eine alltagstaugliche und dennoch markante Komposition, die mit spannenden Nuancen aufwartet und sogar zum Nachdenken anregen kann.
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