Musik für die Nase – 1979 New Wave von Les Bains Guerbois 1885 …

… ist unser, lasst mich überlegen, vierter Duft der Franzosen, die mich mit jedem Tag mehr begeistern, an dem ich mich mit dieser nagelneuen Duftkollektion beschäftige. Les Bains Guerbois, eine Marke oder vielmehr, ganz wörtlich zu nehmen, ein Haus in Paris. Heute Luxushotel mit fünf Sternen im Boutique-Stil, davor legendärer Nachtclub, weltweit bekannt für exzessive Gelage und Promidichte, ganz ursprünglich einmal Thermalbad beziehungsweise Badehaus und auch damals schon Treffpunkt erlauchter Künstler- und Kohlekreise. Der reichen Historie Rechnung tragen, das Erbe wahren und ehren, eine Hommage an die Geschichte – das erklärte Ziel der Duftkollektion. Wer die bisherigen Artikel verpasst hat – nachlesen lohnt!

Einen weiteren Tag verweilen wir in den Siebigerjahren, der Zeit, in der das Les Bains Douches das Nachtleben von Paris bestimmte und die Reichen und Schönen anzog – mit 1979 New Wave.

Die dortigen dekadenten Ausschweifungen der Feierei und das Maß an Dekadenz vorstellen, wenn man sich die Bilder des ehemaligen Clubfotografen FOC KAN ansieht, klick. Weiteren Überblick bzw. Einblicke, ebenfalls von FOC KAN geschaffen, seht Ihr hier, hier und hier. Ihr werdet nicht nur ein aus den Medien bekanntes Gesicht darauf erkennen können, denke ich 😉

Wider den Mainstream – 1979 New Wave

„Another night at Bains Douches, another young English band onstage. The charismatic lead singer close to a trance. A legendary performance. A small enthusiastic crowd, girls and boys riding waves of emotions, sounds, of fragrances melding together yet distinct. Spearmint, peppermint, iris, woody cedar, sandalwood. New Romantics. Is this a dark or cheerful view of the world? Could be both.“

Die Ingredienzen:
Kopfnote: Pfefferminze, grüne Minze, Aldehyde
Herznote: Iris, Virginia-Zedernholz
Basisnote: Sandelholz, Moschus, Ambra

Parfumeur: Dominique Ropion

Fangen wir zuerst mit dem Parfumeur an: Einmal mehr haben sich Les Bains Guerbois 1885 einem berühmten und in der Welt der Parfums klangvollen Namen hinsichtlich ihrer Duftkreation bedient – Dominique Ropion. Ropion ist einer der Altmeister seiner Zunft, mit Sicherheit einer der ersten Riege, wenn es um Können und Bekanntheitsgrad geht. So, wie ich das lese, führte ihn mehr oder weniger der Zufall in die Parfumeriebranche: Mit Sommerjobs nahm seine diesbezügliche Karriere ihren Anfang, und zwar bei Roure Bertrand in Grasse.

Einige Parfumistas werden den Namen bereits kennen – ich hatte ihn unter anderem im Zusammenhang mit Robert Piguet und Germaine Cellier genannt. Letztere gehört unzweifelhaft (ebenfalls) zu den ganz Großen des 20. Jahrhunderts und begann (als eine der ersten Frauen, und zwar nach einem Chemiestudium, auch das eine Seltenheit zur damaligen Zeit) ihre Laufbahn als Parfumeurin ebenfalls bei Roure Bertrand. Den Aromatstoffhersteller gibt es so nicht mehr, denn er wurde schon vor Jahrzehnten von Givaudan aufgekauft, einem der Branchenriesen. Besagte, weltweit bekannte Parfumeursschule, die Ropion besuchte, wird heute geleitet von Jean Guichard, ebenfalls ein Name, dessen Sohn Aurélien Guichard auch Parfumeur ist und für die neuen Düfte von Robert Piguet verantwortlich zeichnet.

Für diejenigen, die weiterstöbern möchten: hier ein Link zu einem Blogartikel, der die Geschichte von Roure Bertrand Fils bebildert darlegt und hier die Givaudan-Parfumeursschule.

Wer sich noch intensiver damit beschäftigen mag – es gibt einige sehr gute Videos zu der Givaudan-Parfumeursschule, seht hier:

Wie Ihr seht, letzteres ist das erste Video einer Reihe zum Thema Parfumherstellung – weitere Teile finden sich ebenfalls auf Youtube, alle aus derselben Quelle stammend – iPerfumer.

Kommen wir zurück zu Ropion: sein Weg führte ihn von Roure über Florasynth und Dragoco 2000 zu IFF, die ihm 2018 (als zweitem Parfumeur überhaupt) den Titel des Master Perfumer verliehen ob seiner beruflichen Erfolge für das Unternehmen, klick. Seht auch hier (überflüssig zu erwähnen: nicht die einzige Auszeichnung bzw. der einzige Preis, den Ropion erhielt für seine Werke, sein ganzes Schaffen):

Und was hat er denn nun geschaffen, der Herr Ropion? Viieeel … Sein erster Erfolg – Ysatis für Givenchy, 1984. Alleine bei Fragrantica finden sich 225 Düfte, die er kreierte oder an deren Kreation er maßgeblich beteiligt war, insofern würde eine umfassende Aufzählung seiner Werke den Rahmen sprengen, einige jedoch greife ich Euch noch heraus, unsortiert:

  • „Mainstream“: Cacharel Amor Amor, Christian Dior Dune, diverse für Givenchy (z. B. Amarige, L’Interdit inklusive etlicher Flanker), Kenzo Jungle (L“Éléphant und Le Tigre), diverse für Lancôme (v. a. La vie est belle und viele Flanker desselben), Ralph Lauren Safari, Thierry Mugler Angel (plus einige Flanker), Sisley Soir de Lune, Viktor & Rolf Flowerbomb (plus diverse Flanker), Vivienne Westwood Anglomania, viiieles für Yves Saint Laurent (vor allem Herrendüfte) usw.
  • „Nische“: diverse für A Lab on Fire und für Frédéric Malle (u. a. Carnal Flower, Géranium pour Monsieur, Portrait of a Lady, Promise, The Night, Une Fleur de Cassie), Olfactive Studio (Iris Shot, Rose Shot, Violet Shot) usw.

Aber zum Thema, zu 1979 New Wave. Dieser widmet sich selbstredend den Anfangszeiten der Nachtclub-Ikone Les Bains Douches, aber, wie unschwer zu erkennen am Namen, einer bestimmten, nennen wir es einmal Subkultur. Anfänglich diente der Begriff des New Wave als Oberbegriff für Bands, die der Punkbewegung entstammten, den klassischen Punk um andere Elemente bereicherten bzw. mit anderen musikalischen Stilen und Genres kombinierten.

Gemäß dieser Definition landeten eine ganze Menge sehr sehr unterschiedlicher Bands und Musiker in dieser Schublade: Talking Heads und Television, The Cars, The Clash, The Damned, The Jam, The Police, The Stranglers, die Ramones und viele mehr, darüber hinaus zählte man auch einiges aus der sich gerade entwickelnden SKA-Bewegung mit hinein.

https://www.pexels.com/photo/woman-holding-flower-bouquet-1035682/

Hat jemand ein kleines oder auch mittelgroßes Fragezeichen vor dem Kopf? Berechtigt. Der Begriff des New Wave, wie er später in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, ist sehr viel enger gefasst und kristallisierte sich vornehmlich in den Achtzigerjahren heraus. Den Grundstein dafür legten Ultravox und Kraftwerk, kurz danach folgten dann schon The Human League, Gary Newman, O.M.D.. Die Synthesizer hielten Einzug in die Musik, woraufhin sich die zu Beginn recht heterogene und vor allem auch „farbenprächtige“ New Wave-Bewegung weiterentwickelte und begab sich in düsterere Gefilde – dem, was heute eher unter New Wave oder Dark Wave verstanden wird (obschon hier diverse Deutsche mitmischten ungleich Neue Deutsche Welle, auch wenn es Überschneidungen gibt). Das wiederum ist dann die Zeit von den Sisters (of Mercy) und den Fields (of the Nephilim), von Joy Division, The Cure, Bauhaus und Siouxsie and the Banshees, von Anne Clark und auch von Depeche Mode. Die zweite Single der Briten wurde 1981 ein Hit, New Life, mit Just Can’t Get Enough kam der europäische Erfolg und die erste Tour. Wer die Rezensionen zu Les Bains Guerbois 1885 aufmerksam verfolgt hat, weiß, wo Depeche Mode ihren ersten Frankreich-Auftritt hatten – im Les Bains Douches.

An dieser Stelle kann ich es mir nicht nehmen lassen, einen DM-Song zu posten, und zwar einen meiner absoluten Lieblingssongs – er wurde zwar im Rahmen der Produktion von deren erstem Studioalbum Speak & Spell mit aufgenommen, erschien aber erst später als B-Side der Dreaming of Me-Single und ist ein unbekanntes Juwel meiner Meinung nach:

… falls wer auf den Geschmack gekommen ist – leider in sehr schlechter Qualität, aber einer der ersten Auftritte von Depeche Mode, Youtube sei Dank:

Es war einmal mehr ausschweifend, nicht nur im Les Bains Douches sondern auch in meinem Artikel zu 1979 New Wave. Warum? Weil, regelmäßige Leser*innen werden schmunzeln, ich mich a) schlecht kurz fassen kann und b) erst recht schlecht kurz fassen kann, wenn ich persönlich involviert bin bzw. auf eine Weise affiziert, „betroffen“. Ich habe es an einigen Stellen schon geschrieben – siehe z. B. hier -, ich war selbst in Jugendjahren ein „Waver“ oder „Gothic“, was sich bis heute zum Teil an meinem Geschmack, sei es Musik oder Kleidung (schwarz, schwarz, schwarz … und vielleicht ein seltenes Teil in Dunkelirgendwas dazwischen), ablesen lässt.

Überflüssig zu erwähnen, dass mir der Name, das Motto (?) des Duftes gefällt. Und ich umso gespannter bin, wie Ropion für Les Bains Guerbois 1885 den Duft umgesetzt hat, in welche Ecke, Richtung seine olfaktorische Interpretation dieses so vielfältigen Begriffes, der sich zudem noch ordentlich entwickelt hat im Laufe der Jahre, zielt …

Ein Romantiker, ein Rooomantiker! Eine Iris, eine Iris, eine Iris! Und zwar eine, die alle, wirklich alle Facetten zeigt, für die Liebhaber dieser Blume oder besser: Wurzel, wenn es um Parfums geht, so lieben. Es finden sich sinnliche, erotische Töne, die an jene Duftfraktion erinnern, die Iris- und Veilchennoten ins Rampenlicht von Boudoir-Düften stellt, die an Lippenstifte, Körperpuder und oft genug an Tänzerinnen, Moulin Rouge und Konsorten erinnern. Darüber hinaus zeigt sich unsere Iris hier aber genauso, vielleicht noch mehr cremig als klassisch pudrig, zelebriert zartschmelzend-schokoladige Facetten als auch kakaopudrige Anklänge, welche Ropion überaus meisterlich in Szene setzt mit grün-aromatisch-süß-frischer Pfefferminze. Dieser eine, wirklich exakt dieser eine Aspekt erinnert mich an ein anderes Meisterwerk – an Borneo 1834 von Serge Lutens, der Kampfer, Menthol und (Patschuli)Kakaopudrigkeit verwebt, allerdings auf sehr viel finsterere Art und Weise (nicht minder schön). Sandel und Ambra wärmen, während Zedernholz kühl-holzig den Gegenpol bildet – jene Darsteller allerdings halten sich zugunsten unserer Iris zurück, der herrlichen.

https://www.pexels.com/photo/woman-bending-her-body-3587320/

Ich habe keine Ahnung, ob Ropion ebenfalls eine solche Erfahrung oder Erinnerung besitzt, aber … ich sehe sie vor meinem inneren Auge: ein weibliches Wesen, das im dunklen Dickicht der Nacht, des Clubs auf einmal auf der Tanzfläche steht, vielleicht zu ihrem liebsten Song. Tanzend sich bewegt, ohne großartig Notiz zu nehmen davon, was um sie herum passiert, allerdings nie jemandem auf den Füßen landet. Sich annähernd schwebend im Takt der Musik bewegt, alle Aufmerksamkeit und Augen auf sich ziehend. Verzaubert ob ihrer fragilen und dennoch überaus einprägsamen Erscheinung, die alle und alles in ihren Bann zieht. Und danach genauso schnell wieder in der Masse der Clubbesucher verschwindet, die Erinnerung eines Augenblicks absoluter Schönheit hinterlassend.

1979 New Wave ist eine Romantikerin, eine sehnsüchtig-melancholische, und zwar eine von berückender Schönheit, eine ätherische Erscheinung, elegant, erlesen, selten. Chapeau, Monsieur Ropion – was für ein wundervoller Duft!

Begeisterte Grüße

Eure Ulrike

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

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