Der Gesichtslose – Martin Margiela …

… ist einer der Antwerp Six, ironischerweise die (Ehren)Nummer Sieben (genauer: sein Haus ist es, nicht er …). Über die Antwerpener Sechs hatte ich schon berichtet, meine ich, zumindest nebenbei – eifrigen Leser/innen dürfte allerdings in jedem Falle nicht entgangen sein, dass ich ein großer Fan von japanischem und eben belgischem Design bin. Margiela ist deshalb eine alte Liebe von mir, ich besitze selbst neben diversen Schnäppchen aus der H&M-Kollektion (die leider niemand so richtig verstanden hat und die deshalb verramscht wurde) einige sehr schöne Stücke von ihm.

Was mag ich an belgischem Design, an belgischer Mode? Das Gleiche wie an japanischer. Und was ist das? Nun, für mich sind Kleidungsstücke von Margiela genauso wie von Kawakubo (wir kennen sie, die Frau hinter Comme des Garçons), von Demeulemeester sowie von Yamamoto textile Kunstwerke, Design – und eben nicht Mode. Mode ist der Zeit unterworfen, ist vergänglich, eine Momentaufnahme. Design ist zeitlos, überdauert die Zeit, ist ihr oftmals voraus. Und ist oftmals geistvoll, ist intellektuell, ist durchdacht – wie im Falle von den genannten Designern, deren Stücke auch oftmals in, ja, Designmuseen hängen (in der Met ist zum Beispiel dieses Jahr eine Ausstellung zum Werken und Wirken von Kawakubo). Der Unterschied zwischen konventioneller Mode und Design ist für mich derselbe wie zwischen … Bauhausklassikern zwecks Möbeln und Lampen und einem Sofa von, ich weiß nicht, Hersteller X für 5000 Euro. Von mir aus mag der Preis derselbe sein, plusminus, aber die meisten Stücke werden in hundert Jahren einfach nicht mehr dieselbe Strahlkraft haben, dieselbe Avantgardität wie beispielsweise der Barcelona Chair von Mies van der Rohe oder der Adjustable Table von Eileen Gray, die, aus den Zwanzigern stammend, heute so aussehen, als ob man sie morgen entwerfen würde.

Im Falle von Kawakubo und Margiela gehe ich soweit, dass ich deren Mode als verstofflichte Philosophie bezeichnen würde – und zwar nicht Philosophie im Sinne des rotweingeschwängerten Sinnierens über das Leben, sondern Universitätsphilosophie. Ich sehe hier bestimmte Aspekte gewisser Schulen übertragen – diese auf den ersten Blick steile These ist es auf den zweiten Blick gar nicht und wird auch von anderen vertreten im Hinblick auf Martin Margiela, dessen Werken und Wirken sich lohnt, einen genaueren Blick darauf zu werfen:

„Martin Margiela studierte an der Antwerpener Königlichen Akademie der Schönen Künste, wo er 1981 seinen Abschluss machte. In den ersten Jahren arbeitete Margiela zunächst als Stylist. Von 1984 bis 1987 war er Assistent von Jean-Paul Gaultier. 1988 gründete er zusammen mit Jenny Meirens, einer Brüsseler Einzelhändlerin, das Maison Martin Margiela als Neuf SARL. 1997 ernannte der damalige CEO von Hermès, Jean-Louis Dumas, Margiela überraschend zum Chefdesigner der Damenmode des Hauses, wo ihn 2004 Jean-Paul Gaultier ablöste.

Margiela gilt als Modernist und Dekonstruktivist: Bereits existente, recyclete Kleidungsstücke werden auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, die Nähte nach außen gewendet. Als er in den späten achtziger Jahren damit begann, galt seine Vorgehensweise als spektakulär: Er machte sichtbar, was in der Mode bisher verborgen geblieben war – ihren Konstruktionscharakter. Übergroße Ärmel setzte er an zu schmalen Schulterpartien an, aus alten Damenhandschuhen fertigte er Blusen, aus VHS-Magnetbändern elegante Stolen, Westen aus einzelnen Stoffteilen hielt er mit braunem Klebeband zusammen. Eines seiner Markenzeichen sind Huf-ähnliche Schuhe in Tabi-Form.

Für die Modenschau-Gala anlässlich des 40-jährigen Jubiläums von Designer-Kollegin Sonia Rykiel 2008, zu welchem zahlreiche renommierte Modeschöpfer eigene Entwürfe beisteuerten, kreierte Margiela einen Mantel im Perücken-Stil, der nicht nur auf die rotblonde Haarpracht von Sonia Rykiel, sondern auch auf Margielas Aufwachsen „in einem Limburger Elternhaus mit dem Handel von Perücken und Parfums“ anspielte. Perücken tauchten als Motiv immer wieder in Margielas Entwürfen auf.

[…] Durch zahlreiche Ausstellungen, bspw. in Museen, war Margiela in der Kunstwelt fest etabliert. Eine Übersichtsschau seines 20-jährigen Schaffens war vom 20. März – 1. Juni 2009 im Haus der Kunst in München, zu sehen.“ Quelle: Wikipedia.

Ein Teil des Konzepts war es, dass sich Margiela nie fotografieren ließ, nie persönliche Interviews gab – in Interviews, die per Fax geführt wurden, sprach er von seinem Maison Martin Margiela immer im Plural – „wir“ -, darüber hinaus war er nie auf dem Laufsteg zu sehen nach seinen Schauen, was den Fokus von seiner Person auf das Schaffen des Hauses lenken sollte. Des Weiteren finden sich als Etiketten in seinen Kleidungsstücken nie der Name des Hauses, die Hauptlinie ist gekennzeichnet durch reinweiße „leere“ Etiketten, die sich von außen nur an den charakteristischen vier Stichen erkennen lässt, mit denen die Etiketten befestigt werden. Die anderen Linien werden mit Buchstaben-Nummern-Kombinationen gekennzeichnet. Von Margiela selbst existiert lediglich ein Foto aus 2008 in den Medien, das erstmalig von der New York Times veröffentlicht wurde. Wer mehr zur Marke lesen möchte – hier entlang.

Seit 2002 gehört das Maison Martin Margiela zu Diesel, 2009 ist Margiela selbst ausgeschieden und 2015 wurde sein Vorname aus dem Namen getilgt. Die Duftsparte des Maison Margiela gehört zu L’Oréal – nachdem wir sie mittlerweile im Shop haben, wird es endlich einmal Zeit, sich ihr zu widmen, was ich dieser Tage vorhabe.

Die Duftmarke des Maison Margiela, auf den alten Namen Maison Martin Margiela hörend, nahm ihren Anfang 2010 – und zwar mit einem Duft, der konsequenterweise auf den Namen (untitled) hört:

„Kein Label. Keine Vorbilder. Seltene und wertvolle Ingredienzen. Höchste Parfümeurskunst. Ein neues Luxusverständnis. (untitled), der erste Duft von Maison Martin Margiela, trägt unmissverständlich die Handschrift des unkonventionellen Modehauses.

Galbanum, ein dem Fenchel verwandtes Gewächs, das sehr selten in Parfums zum Einsatz kommt, dominiert die Kopfnote. Weihrauch gibt dem Duft ein interessantes rauchiges Aroma. Schließlich folgen grüne Ingredienzen wie Buchsbaum, die sich zu einem frischen Klang vereinen. Sie stehen in aufregendem Gegensatz zu den harzigen Klängen in (untitled).“

Auch, wenn Margiela selbst 2010 schon nicht mehr mit an Bord war – ich glaube, er mag diesen Duft. Und ich bin mir sicher, dass er als Signature beziehungsweise erster Markenrepräsentant exakt richtig gewählt war in seiner Aussage. Aber zuallerst einmal die Duftnoten: Kopfnote: Bitterorange, Galbanum, Buchsbaum; Herznote: Galbanum, Mastix, Jasmin; Basisnote: Moschus, Zedernholz, Weihrauch.

(untitled) ist ein Grünling, ein schillernder, allerdings weniger ein vorrangig frischer Vertreter seiner Gattung als vielmehr ein kühler Kandidat. Ein wenig Gras, mehr aber Blattwerk machen ihn aus, Blätter, die noch an Ästen hängen, an knarzigem, trockenem Holz, verwittert wirkend wie man es zum Beispiel von Olivenbäumen kennt. Frische suggeriert lediglich das kühle Naturell des Duftes, wir haben es hier nicht mit einer aquatischen oder maritimen, auch nicht mit einer zitrischen Frische zu tun, vielmehr eine kühle Luftigkeit, die durch das Blattwerk weht, von Weihrauchschwaden durchzogen, überhaupt – harzgeküsst. (untitled) fehlt jegliche Wärme, eine Süße ist lediglich sehr subtil vorhanden, gleich einem zarten Sonnenstrahl, der hin und wieder durch ein Wolkendach bricht und für kurze Momente das Grün erleuchtet. Bitter und herb ist (untitled), und dennoch offenbart er im weiteren Verlauf eine gewisse Milde und eine weiche Cremigkeit, die ursächlich auf Moschus und Jasmin zurückzuführen sind. Jasmin schafft hier lediglich Cremigkeit, ist nicht oder wenn überhaupt nur in Ansätzen als Blüte wahrzunehmend oder als blühend … und kaum schreibe ich das, sehe ich sie doch vor meinem inneren Auge, weiße Knospen im grünen Dickicht, dessen Unterholz mittlerweile würzige Anklänge kreiert und von Zeder sanft gesäubert sich zeigt.

(untitled) ist ein wundervolles krautig-rauchig-kantiges Duftchamäleon, ein im absolut positiven Sinne verkopftes, aber dennoch komplett authentisch duftendes, das sowohl für Männlein als auch Weiblein tragbar ist. Ein moderner und dennoch zeitloser Immergeher, der, obschon zurückhaltend, ein Statement ist und setzt – genauso wie die „Mode“ von Margiela.

Ein Jahr danach folgte (untitled) l’eau, ebenfalls geschaffen von Daniela Andrier, der mit folgenden Duftnoten aufwartet: Buchu, Galbanum, Minze, Orangenblüte, Mandarine, Weihrauch, Zedernholz, Zitrone.

(untitled) l’eau ist, obgleich einige der Duftnoten im Vergleich zu (untitled) deckungsgleich sind, mehr als eine bloße Variation – ich nehme ihn als vollkommen eigenständigen Duft wahr: Eine (post)moderne Cologne-Interpretation, die recht schnell beschrieben ist, dennoch einen unvergleichlichen Charme besitzt. L’eau lockt mit saftigen Mandarinen und sachten Noten von Körperpuder, mit Minzfrische, grünen Anklängen, die an den Saft von Gräsern und Blättern erinnern, ein paar verhalten süßen Orangenblüten sowie säubernder Zeder. Drei Zeilen für einen Duftverlauf, dem man sich, ist er auf der Haut angekommen, kaum entziehen kann. Natürlich duftend, unaufdringlich und trotzdem von einem sehr besonderen Charakter ist auch dieser Vertreter der Maison Margiela-Duftkollektion unisex und allzeit bereit, sprich – zu jeder Gelegenheit, Tages- als auch Jahreszeit tragbar.

2012, wiederum ein Jahr später, legte man nach – mit der Replica-Kollektion:

„Replica stellt die Reproduktion vertrauter Düfte und Momente verschiedener Orte und Zeiten dar.

Das ‘Replica’-Konzept unterstreicht das Interesse des Hauses für Kleidung und Accessoires mit Funktionalität sowie an bedeutsamen Erlebnissen. „Replica“ enthält das französische Wort „réplique“, es erinnert an die Idee von Zeitlosigkeit, die bestehen bleibt – jetzt und in der Zukunft. Düfte umsetzen, die jeden ansprechen. Die mit unserer Vorstellungskraft übereinstimmen. Die Erinnerungen in uns wecken.

Die Replica-Kreationen zeugen vom Interesse des Maison Martin Margiela an Retro-Kleidung und -Accessoires. Die individuellen Merkmale und der Charme dieser auf der ganzen Welt zusammengetragenen Stücke werden nicht verändert. Die „Replica“ werden originalgetreu nachgebildet und mit einem besonderen Etikett versehen, das Informationen über ihre Herkunft, ihre Funktion und ihre Epoche enthält. Nun überträgt die Marke dieses beispiellose Konzept auf eine Duftkollektion.“

Dazu das Haus selbst:

„Das Replica-Konzept ist ein Aspekt unserer Auffassung von Kleidung – oder allgemeiner gesagt – unserer kreativen Vorgehensweise, die in diesem Fall von der Idee des Zeitlosen inspiriert wurde: Ein Kleidungsstück aus der Vergangenheit kann heute oder morgen durchaus modern sein. Wir haben versucht, diese Idee beim Parfum umzusetzen. Düfte, die Teil unseres kollektiven Gedankenguts sind.“ – Maison Martin Margiela

Die Replica-Kollektion wurde bis heute laufend erweitert, insofern verabschiede ich mich an dieser Stelle von meinem chronologischen Vorgehen und präsentiere Euch heute und in den kommenden Tagen schlicht und einfach deren Vertreter, wie sie mir in die Hände gekommen sind (ob das nun immer Zufall war oder nicht … wer weiß das schon ;))

Den Anfang macht Lipstick On, geschaffen von Anne Flipo:

„Chicago, 1952 – in der Privatsphäre eines Appartements öffnet sich eine Tür einen Spaltbreit. Geschützt vor den Blicken der anderen vollendet eine Frau ihr Make-up. Eine delikate Wolke aus Reispuder. Karminrote Lippen. „Lipstick on“ zeichnet das Porträt einer Frau, die sich fürs Ausgehen vorbereitet. Es schöpft seine Inspiration aus dem Ballett minutiöser Gesten, diesem nächtlichen Ritual vor dem Spiegel ihres Schminktisches. Sein Duft fängt die Sinnlichkeit dieses Moments ein, indem er mit dem Kontrast zwischen der Intensität des Lippenstiftes und der Sanftheit des Reispuders spielt.

Pudrig, luftiges Iris-Concrète trifft auf die eindringlichen Noten von Galbanum, vor dem Hintergrund von Bourbon-Vanille und Tonkabohnen-Absolue. „Lipstick on“ fördert eine unerwartete und komplexe Dufterinnerung zu Tage. Es beschreibt das Bild eines Moments absoluter Weiblichkeit – in einer modernen, subtilen und eleganten Interpretation.“

Meine ersten Gedanken … Film Noir, Raymond Chandler, Boardwalk Empire. Filmdiven. Nachtclubs. Die amerikanische Variante eines Moulin Rouge, vielleicht mit weniger Striptease, dafür mehr Poker. Nichtsdestoweniger – ganz klar, eine Iris muss es sein, was sonst? In sogenannten Skindüften darf sie nicht fehlen, in Düften, die nach Kosmetik, dekorativer, nach Körperpuder oder Lippenstift duften, nach edlen Cremes aus eleganten Tiegelchen. Und Reispuder ist dazu eine ideale Ergänzung, betont er doch genau diese Anmutung.

Natürlich ist es ein Weibchen, der Duft – und was für eines! Er ist ziemlich perfekt, sinnlich und erotisch, aber nicht vordergründig und keinesfalls vulgär. Ich würde gerne mal die Verkaufszahlen sehen, über die Jahre – denn ich könnte mir gut vorstellen, dass es einer der Bestseller der Kollektion ist. Mir ist kaum eine Frau bekannt, die den Duft von Puder und Lippenstiften nicht mag, den oben beschriebenen. Und genau so duftet Lipstick On: Nach Lippenstift, nach Körperpuder, nach luxuriöser Creme, die sich darunter versteckt und die Haut nährt. Süß, aber nicht pappig, nicht gourmandig, sondern eben diese leise Süße, die eine pudrig-cremige Iris verströmt, jene genuin weibliche. Die Bilder, die wie alle auf der Seite verwendeten von Maison Martin Margiela direkt stammen, fangen den Duft zu 200% ein. Genau so und nicht anders – was für ein wunderbares Parfum! Und das schönste daran ist: Lipstick On vermittelt einem das Gefühl, unwiderstehlich zu sein. Es ist einer dieser seltenen Düfte, der keine großartigen Bilder zelebriert, einen gedanklich mit auf die Reise nimmt, nein – er vermittelt einem, die eigene Weiblichkeit unterstreichend, das Gefühl, überaus begehrenswert zu sein, duftet auf der Haut wie eigene Haut in „noch besser“ und lässt frau sich somit unfassbar wohlfühlen in der eigenen Haut. Was gibt es Schöneres?

Vor lauter absolut berechtigter Lobhudelei hätte ich sie fast vergessen, die Duftnoten: Kopfnote: Bergamotte, Heliotrop, Neroli; Herznote: Orangenblüte, Iris, Galbanum; Basisnote: Tonkabohne, Bourbon-Vanille, Patchouli.

Morgen geht es weiter – und bleibt spannend, meine Lieben!

Bis dahin alles Gute und viele herzliche Grüße,

Eure Ulrike

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

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