„Der Dampf meines Atems”

Ihr seht schon, mich lassen die Düfte von Nasomatto nicht los, weswegen ich mir heute Hindu Grass vorgenommen habe. Zuerst fragte ich mich, was das Hindu-Gras wohl sein könnte, wollte Euch erst etwas über den Hinduismus berichten, um dann festzustellen, dass es bei diesem Titel höchstwahrscheinlich einfach um ein assoziatives Wortpaar geht, das einige Gedankengänge anschubsen soll. Auf die richtige Spur brachte mich der Produkttext:

„Hindu Grass“ von Nasomatto verweist in den Fernen Osten, in das spirituelle Indien und evoziert eine friedvolle und meditative Welt.
Krautige Noten lassen das Sirren einer Klangschale erahnen und gehen harmonisch in ein mildes Herz aus Gras und Heu über. Getragen werden diese auf einer Sänfte aus Tabak und den vertraut erdverbundenen Essenzen des Patchouli.
Eine Atmosphäre des Friedens, um einfach in sich selbst zu ruhen, umrahmt von einem tief empfundenen Gefühl menschlicher Wärme.

Ich muss an die „Leaves of Grass“ (dt. „Grashalme“) des amerikanischen Schriftstellers Walt Whitman denken, die in mehreren Ausgaben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts publiziert wurden – jeder kennt den Ausruf aus einem seiner Gedichte: „O Captain! My Captain!“ aus dem Film „Club der toten Dichter“. In seinen „Grashalmen“ gibt es ein überaus umfangreiches Gedicht „Song of Myself“ – „Gesang von mir selbst“, aus dem ich Euch Auszüge aus den ersten beiden Teilen zeigen möchte:

I celebrate myself, and sing myself,
And what I assume you shall assume,
For every atom belonging to me as good belongs to you. I loafe and invite my soul,
I lean and loafe at my ease observing a spear of summer grass.
My tongue, every atom of my blood, form’d from this soil, this air,
Born here of parents born here from parents the same, and their parents the same,
I, now thirty-seven years old in perfect health begin,
Hoping to cease not till death.
Creeds and schools in abeyance,
Retiring back a while sufficed at what they are, but never forgotten,
I harbor for good or bad, I permit to speak at every hazard,
Nature without check with original energy.
Houses and rooms are full of perfumes, the shelves are crowded with perfumes,
I breathe the fragrance myself and know it and like it,
The distillation would intoxicate me also, but I shall not let it.
The atmosphere is not a perfume, it has no taste of the distillation, it is odorless,
It is for my mouth forever, I am in love with it,
I will go to the bank by the wood and become undisguised and naked,
I am mad for it to be in contact with me.
The smoke of my own breath,
Echoes, ripples, buzz’d whispers, love-root, silk-thread, crotch and vine,
My respiration and inspiration, the beating of my heart, the passing of blood and air through my lungs,
The sniff of green leaves and dry leaves, and of the shore and dark-color’d sea-rocks, and of hay in the barn […]
Ich feiere mich selbst und singe mich selbst, Und was ich mir anmaße, das sollt ihr euch anmaßen,
Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört auch euch! Ich bin Müßiggänger und lade meine Seele zu Gaste, Ich lehne mich an oder schweife umher nach meinem Behagen, und betrachte einen Halm des Sommergrases.
Meine Zunge, jedes Teilchen meines Blutes ist hier aus diesem Boden, aus dieser Luft gebildet,
Von Eltern geboren, die hier von ähnlichen Eltern geboren, und diese wieder von ähnlichen Eltern,
So beginne ich jetzt, siebenunddreißig Jahre alt, in vollkommener Gesundheit,
Und hoffe nicht eher aufzuhören, bis zum Tode.
Glaubensbekenntnisse und Schulen ruhen eine Weile im Hintergrund,
Treten zurück, nach dem geschätzt was sie sind, doch nimmer vergessen,
Ich nehme alles in mich auf, mag Gutes oder Böses daraus erwachsen, ich lasse reden auf jede Gefahr
Natur ohne Zwang, mit ursprünglicher Kraft.
Häuser und Räume sind voller Wohlgerüche, die Bücherbörter sind voller Düfte,
Die ich einatme, die ich kenne und liebe,
Die Essenz würde mich berauschen, aber ich lasse es nicht zu.
Die Atmosphäre ist kein Parfüm, sie schmeckt nicht nach Essenz, sie ist geruchlos,
Sie ist immer für meinen Mund; ich bin verliebt in sie,
Ich will zum Hügelhang am Walde gehen und unverkleidet und nackt sein,
Denn ich lechze danach, mit ihr in Berührung zu kommen.
Der Dampf meines Atems,
Waldwiderhall, Gerinnsel, surrendes Flüstern, Liebeswurz, Seidenfaden, Gabelstock und Rebe,
Mein Aus- und Einatmen, das Pochen meines Herzens, das Durchströmen von Blut und Luft durch meine Lungen,
Der schwache Geruch von grünem und trocknem Laub, vom Ufer, von den dunkelfarbigen Seefelsen und vom Heu in der Scheune […]

Walt Whitman 1854Ich denke, dass dieses Gedicht und die Art, wie es geschrieben ist durchaus zu „Hindu Grass“ passt. Der Blick für das kosmische große Ganze und im Gegensatz dazu, der Blick für die kleinen Details, die fast verborgenen Schönheiten, die nur im Innehalten fassbar sind, die das Lebens lebenswert machen und nicht zuletzt der Verweis auf Parfums und Düfte…

„Hindu Grass“ ist ein grasiger, krautiger und grüner Duft mit einer leicht bitteren Note im Hintergrund, ich könnte mir da Hölzer oder Vetiver vorstellen, denkbar wäre auch Tabak mit etwas Patchouli – hierdurch wird ein weicher Ausklang gewährleistet. Wie schon einmal erwähnt, bekommt man von Gualtieri keine Duftnoten, deswegen muss das eigene Riechorgan noch mehr als sonst angestrengt werden. Hindu Grass befindet sich auf dem gleichen hohen Niveau wie die bereits besprochenen Düfte. Wer es grasig und krautig mag und gleichzeitig den typischen Gualtieri-Akzent mag, sollte hier unbedingt einmal anriechen.

Ich hoffe, ich habe Euch zu einer guten Lektüre verholfen 😉
Liebe Grüße
Harmen

Neueste Kommentare

Harmen Biró Verfasst von:

Hallo, ich heiße Harmen, war bis vor Kurzem irgendwas­unddreißig und habe immer die Nase im Wind, um Duftschätze für Euch zu finden und hier vorzustellen. Selbst bevorzuge ich feine Lederdüfte oder Gewürzkompositionen, ohne mich da aber festzulegen. Warum auch? Es gibt ständig so viel Neues in der Welt der Düfte zu entdecken. → BIRÓ

8 Kommentare

  1. Chris
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Wunderbar passende Be- und Umschreibung, die genau das trifft, was ich bei einer Duftprobe erst diesen, vergangenen Samstag erleben durfte. Grünes Kraut, Krautgrün, Grünkraut, extrem intensiv, extrem stark, sehr unkonventionell und un-westlich, ohne dabei aber gleichzeitig in eine stark dominant-orientalische Richtung zu driften. Nein, nicht dezent, aber ingesamt dominant, stark, extrem und mit verhaltener Frische, aber fuliminanter Wucht, die direkt in die Nase und in die Hirnzellen schießt und vernebelt und benebelt, wie es sonst vielleicht eigentlich nur andere Kräuter vermögen, die vor kurzem hier im Blog bildhaft abgebildet wurden im Kontext anderer Rezensionen. Aussergewöhnlich? Auf jeden Fall. Und die hiesige Beschreibung trifft’s damit perfekt.

  2. Harmen
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Hallo Chris,
    schön, dass Du Dich hier als weiterer Fan von „Hindu Grass“ meldest! Kennst Du die anderen Nasomattos auch? Falls ja, findest Du auch, dass es so einen typischen Gualtieri-Akzent gibt?
    Viele Grüße
    Harmen

  3. Chris
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Hallo Harmen,
    ich muss gestehen, dass ich noch ein olfaktorischer ’newbie‘ bin, dem es schwerfällt, Nuancen und Tendenzen und Gemeinsamkeiten zu ‚erschnüffeln‘, zumindest aber konnte ich beim Schnuppern in _alle_ Nasomattos am vergangenen Samstag als Gemeinsamkeit bemerken, dass einerseits die Duftintensität unglaublich hoch ist )klar, ist wohl auch jeweils ein Parfum/Konzentrat?), andererseits tatsächlich alle verschiedenen Düfte irgendwo und irgendwie eine gewisse Gemeinsamkeit haben, die ich aber nicht in Worte fassen kann. Auf der Suche nach einem Alltagsduft mit Bprokompatibilität habe ich mich jedoch für keinen der Naso’s entschieden, zumal ich mir vollkommen unklar bin, wie die Umwelt _darauf_ reagieren würde. Tendenziell gefielen mir einige der Düfte sehr gut, aber diese wahnsinnige Extrovertiertheit jedes einzelnen Duftes ist für mich noch zu gewöhnungsbedürftig. Kenner dürften vielleicht wirklich blind den von dir angesprochenen Gualtieri-Akzent bemerken, denn da ist ‚was’…. das ‚was‘ vermag ich aber nicht zu definieren.
    In jedem Fall ist Nasomatto wohl eine Erfahrung, die man machen kann und sollte 😉
    Viele Grüße,
    Chris

  4. Harmen
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Hallo Chris,
    ich bin neugierig…hast Du einen bürotauglichen Duft gefunden? Ich finde es schwierig zu beurteilen, welcher Duft definitiv niemandem auf den Wecker gehen könnte 😉 Aber Du hast schon Recht, die Nasomattos sind eher ausgeh- und heimtauglich…
    Viele Grüße
    Harmen

  5. Avatar photo
    Ulrike
    9. Oktober 2012
    Antworten

    … also ich trage ja Duro und Absinth ohne jegliche Probleme tagsüber. Was sagt das über mich? *lach*

    Liebe Grüße – Ulrike.

  6. Harmen
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Liebe Ulrike,
    das sagt, dass Du keine Bürokollegen hast 😀
    LG Harmen

  7. Avatar photo
    Ulrike
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Das ist wohl wahr… Aber, ob Du es glaubst oder nicht – auch ich verlasse hin und wieder meinen Elfenbeinturm 😉 😀

  8. Chris
    9. Oktober 2012
    Antworten

    Harmen, ich hatte bei ALZD vor einigen Wochen ‚Heeley’s Verveine bestellt und ich liebe hier die Simplizität und die klare Erkennbarkeit der Komponenten und weil er so unglaublich dezent ist – manche reklamieren sogar ganz negativ die Haltbarkeit – ist er ideal für unser kleines Büro-Kabuff geeignet, das ich mit einem Kollegen teile, fast ‚verduftet‘ er sogar zu schnell – was mir aber durchaus lieber ist, als so manches Amouage-Pröbchen, das ich auch nach 2-3 Tagen noch immer auf der Haut erkennen konnte trotz zahlreicher Abwasch-Versuche mit regulären Seifen und sogar extrem entfettendem Handspülmittel 😉

    Absinth von Nasomatto gefiel mir prinzipiell auch recht prima, zu meinen Spontanlieblingen beim Schnuppern gehörten damit ‚black afghano‘, ‚hindu grass‘ sowie ‚absinth‘, aber eine gewisse Gefallensskepsis war definitiv vorhanden, wenngleich ein Papierduftstreifen auch nicht reicht, um wirklich zu wissen, wie ein Duft sich anfühlt.

    Um mich jedoch ‚bestäuben‘ zu lassen, dafür fehlte mir bei den Nasomattos tatsächlich noch der Mut 😉

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