4. Art and Olfaction Awards in Berlin: Der Rahmen …

… oder vielmehr das Rahmenprogramm, das ich gestern bereits angeschnitten hatte, war überaus interessant als auch inspirierend und fand am Freitag statt in den Tagungsräumen des Silent Greens. Ausgeschlafen waren wir, das musste man auch sein, denn wie immer bei Workshop- und Vortragstagen wurde selbstredend überzogen, da es viel Interessantes mitzuteilen und zu diskutieren gab.

Das Freitagsprogramm sah auf dem Papier wie folgt aus:

11:00 – INTRODUCTION: Klara Ravat & Saskia Wilson-Brown

11:10 – SCENT EXPERIENCE: Andreas Wilhelm

NEW PROJECTS, NEW IDEAS
+ 11:45
Ashraf Osman: Presenting scent art.net
+ 12:05 Ramina Puzicha: Presenting Per Se, Berlin
+ 12:25 –  Leanne Wijnsma: Presenting Smell of Data
+ 12:45 –  Daniela Gesundheit: Collaboration with Evaporation (the symbiosis of music and scent)

1:00 – ROUND TABLE: USING SCENT IN CREATIVE PRACTICE
Moderated by Klara Ravat
An open moderated conversation about the issues we face when working with scent in an experimental capacity. How can we redirect the idea of scent? How can we better use scent to tackle social problems/social change?  How can we use scent to tell better stories? How can we better use scent in the context of art, technology?
Participants
+ Eddie Bulliqi
+ Andreas Wilhelm
+ Olivia Jezler
+ The group at large

2:00 –  LUNCH BREAK

SEVEN/SEVEN
Moderated by Saskia Wilson-Brown
Three participants have 7 minutes to share a new idea, ask a question or present a project to the group at large, followed by a 7 minute discussion.
+ 2:45Sarah Baker: Disrupting high fashion
+ 3:00 – Ben Chase: Imitations of Life – The Knockoff
+ 3:15Hortus Apertus: New projects

SCENT + TECHNOLOGY
+ 3:30 –  Frederik Duerinck: Scent + Haptic Technologies
+ 3:50 –  Yasaman Sheri: Future Senses
+ 4:10 –  Grace Boyle + Nadjib Achaibou: Scent in the context of VR

4:30 –  BREAK

SCENT + SOCIAL PRACTICE
+ 4:50Maki Ueda: Working with scent in the public realm
+ 5:10 Spyros Drosopoulos: Unexpected pairings
+ 5:30 – Claus Noppeney: Scent in anosmic settings

CLOSING TALK
+ 5:50 –  Wolfgang Georgsdorf: Olfactory Theatre – Building for Public Experience

6:30 – 7:00 – SCENT + MUSIC IMPROVISATIONS
+ Daniela Gesundheit + Spyros Drosopoulos

Den Beginn machte unser guter „alter“ Bekannter aus Zürich, Andreas Wilhelm, der unter anderem die Düfte für Sentifique kreierte, einiges für L’Adoné, Gisada und viele mehr. Andreas hat einige Zeit frei gearbeitet, ist jetzt wieder unter Vertrag tätig – einen Überblick über sein Schaffen findet Ihr unter anderem auf seiner älteren Homepage (als er noch selbstständig war), darüber hinaus hat er auf der Esxence soeben sein neues Projekt vorgestellt, Perfume Sucks

Copyright by Andreas Wilhelm

Andreas zeigte uns einen zauberhaft charmanten Film, den er mal für Kinder gemacht hatte, um seinen Beruf zu erklären: Der Parfumeur als Zauberer, als Alchemist. Sein Selbstverständnis als Parfumeur skizzierte er unter anderem mit den Bildern des Kindes, des Instruments und des Geschichtenerzählers. Das Kind steht hierbei für die Neugierde und das Staunen, was mich sofort an die Bedeutung des Staunens in der Philosophie, letztendlich auch in der Psychologie denken ließ. Bei Wiki findet sich dazu ein kurzer Absatz, der sich mit den alten Griechen befasst:

„Aristoteles sieht im Staunen (griechisch ????????? „thaumazein“) den Beginn des Philosophierens, das einen starken Akzent auf die Verwunderung legt. Die Philosophie würdigt Dinge kritischer Betrachtung, die zunächst als selbstverständlich erscheinen. Selbstverständlichkeiten werden bezeichnet als „bloße Meinung“ (dóxa). Bei genauem Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten zeigen sich erstaunliche, bisher unberücksichtigte und neue Wahrheiten (alétheia).

Für Platon war das Staunen der Anfang aller Philosophie:

„???? ??? ????????? ????? ?? ?????, ?? ?????????: ?? ??? ???? ???? ?????????? ? ????. –
Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Platon: Theaitetos155 d

Die Dissonanz zwischen bloßer Meinung und neuer Wahrheit fördert das Streben nach Wissen. Indem das philosophische Staunen die bisher wenig bedachten Dinge hinterfragt, bringt es die Wissenschaft voran. Staunen erzeugt eine innere Bewegung und Anspannung, die in einer aktiven eigenständigen Auseinandersetzung mit einer Sache mündet (Aristoteles, Schreier, Schiefele). Die Neugier wird angeregt. Dieses Unerwartete soll verstanden werden, zu etwas Bekanntem gemacht und verinnerlicht werden. Auf diese Weise wird Staunen zu einer Fragestellung und erzeugt die Motivation, etwas Neues zu lernen.“

Interessant ist natürlich auch das Kind von Nietzsche als Entwicklungsstadium, das er in seinem Zarathustra skizziert – falls wer neugierig geworden ist 😉 In jedem Fall steht das Kind für „Unschuld“ im Sinne eines vorurteilsfreien Herangehens an Dinge, für Freiheit, für Sich-Ausprobieren im Spiel, für das Staunen und die Neugierde – und ist somit sicherlich die beste Voraussetzung, um etwas Neues zu schaffen, überhaupt: etwas zu schaffen.

Andreas‘ Beschreibung seines „kindlichen“ Experimentierens kommt dem ziemlich nahe: In den Zeiten, wo er keinen konkreten Auftrag hat, „spielt“ er vorbehaltslos und probiert in seinem Labor. Er tüftelt an der Entwicklung neuer Akkorde, wobei er meist mit drei bis fünf Rohmaterialien experimentiert. Darüber hinaus sprach er den Punkt an, dass seines Erachtens nach die meisten Duftinnovationen auf eine „Overdose“ zurückgehen, sprich: das beabsichtige Überdosieren eines bestimmten Rohstoffes, Moleküls. Das wurde in der Runde ansatzweise diskutiert und aufgegriffen – für mich ist der Ansatz absolut stimmig, zumal er von vielen Kritikern und Parfumeuren vertreten wird, es fallen mir dazu auch prompt einige Klassiker-Beispiele ein wie Chanels No. 5 (Aldehyde), Piguets Bandit (Isobutyl Quinoline aka Pyralone), Diors Eau Sauvage (Hedione), Guerlains Shalimar (Bergamotte und Vanille) sowie Must de Cartier (Zibet). Bei Basenotes in deren Forum findet sich ein Thread, in dem das Thema mit Beispielen diskutiert wird.

Offenheit bedarf es für dieses „Spielen“ – genauso wie für die Tätigkeit als „Instrument“: Andreas brachte hier ebenfalls eine wichtige Rolle ins Gespräch, die des Parfumeurs als „Extension“ des Künstlers, als Übersetzer und/oder helfende Hand, ausführendes „Organ“. Ein offenes Ohr, ein gutes Gespür für die Wünsche und eine gewisse Objektivität in mehrfachem Sinne sind hier notwendig. Zuallererst geht es um die eigenen individuellen Präferenzen, denn „Liebe macht blind“: Versteift sich der Parfumeur auf einen bestimmten Rohstoff oder auf eine Auswahl derselben oder lehnt ebensolche ab, ist das Projekt gefährdet. Als gutes Beispiel sehe ich hier den Marquis de Sade-Duft von État Libre d’Orange, die exakt diesen Umstand als Arbeitsvoraussetzung forciert hatten und somit eine Art Kunstprojekt daraus gemacht haben, welches wiederum perfekt zu dem Thema, jenem umstrittenen Literaten passt (Labdanum-Duft aus den Händen eines Parfumeurs, der Labdanum hasst – ich hatte berichtet). Darüber hinaus gibt es natürlich auch Grenzen in der Praxis, die der Parfumeur kennen muss – Andreas nannte dafür das Beispiel einer Kunstinstallation mit Duft, die irgendwo im öffentlichen Raum (U-Bahn-Haltestelle, öffentliches Gebäude etc.) gasartig duftet. Warum das ein No-Go ist, liegt klar auf der Hand.

Der Parfumeur als Geschichtenerzähler ist selbstredend ein genauso potentes Bild: Es obliegt ihm, der Vision, den Ideen, der Leidenschaft des Auftraggebers Ausdruck zu verleihen genauso wie generell einen Duft zu kreieren, der Gefühle weckt, Emotionen auslöst. Dabei muss er interkulturelle Differenzen miteinbeziehen, kulturelle Gepflogenheiten und Geruchstraditionen – das war unter anderem bei der Kreation der Düfte für die Automobilbeduftung im Hause Daimler ein großes Thema: Die Firma ist logischerweise ein Global Player, die Beduftung sollte weltweit mit jeweils einem Standardduft verfügbar sein (was sie jetzt ja auch ist) – wie vermeidet man Fettnäpfchen bzw. vorher noch überhaupt das Bewusstsein, dass es ebensolche gibt, die es zu umgehen gilt. Man denke nur an Blumen, es gibt bestimmte Vertreter, die in manchem Land als Hochzeitsblume gelten oder als Symbol für Glück, in anderen Ländern wiederum nur in Beerdigungskränzen anzutreffen sind. Darüber hinaus gilt es natürlich bei einer Duftkreation, einen Spagat zu schaffen – den Kunden, im weiteren Gedanken- und Fertigungsschritt natürlich auch den Endkunden, einerseits abzuholen, ihm Bekanntes, bestenfalls Bewährtes zu offerieren, darüber hinaus aber auch einen Twist einzubauen, eine Unbekannte, etwas Neues. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die meisten guten Düfte, die oben angesprochene Herangehensweise mit der Overdose ist ebenfalls eine Methode, die darauf basiert.

Zu guter Letzt äußerte Andreas den Wunsch, den wir eigentlich alle hegen: Dass Düfte mehr in den Vordergrund der Wahrnehmung rücken, dass mehr zum Thema Duft passiert, dass mehr interdisziplinär gearbeitet wird. Und, sein ganz persönlicher: Dass Kunst im Zusammenhang mit Duft nicht immer durch „Hässlichkeit“ bzw. Abstoßendes auf sich aufmerksam machen sollte, schockieren und provozieren, dass man sich hier doch auch der Schönheit, dem Schönen zuwenden könne, wie auch immer das ausgestaltet wird. Viel Spaß hatte Andreas auch bei seiner Duftpräsentation, die er mittels eines Ventilators im Raum verteilte, was zum Teil auch ins Auge ging, im wahrsten Sinne des Wortes 😉

Ashraf Osman tummelt sich schon lange im „Dunstkreis“ Duft und hat schon einiges bewegt – auf der Seite des Institutes könnt Ihr seinen Werdegang nachlesen. Im Rahmen seines Vortrags erzählte er ein wenig darüber, über seinen Forschungshintergrund hinsichtlich Olfactory Art und sein neues Projekt, die Seite ScentArt. Hier werden Kunstprojekte zum Thema Duft vorgestellt, Menschen, die sich damit beschäftigen und vieles mehr – das Ziel ist klar: Mehr Öffentlichkeit zu generieren für das Thema Duft in allen Facetten, für Duftkunst, sowie das Vernetzen von dementsprechend Tätigen.

Copyright – Ich, kein Profi, wie man sieht 😉

Leanne Wjinsma stellte mit ihrem Smell of Data-Projekt eine Art Geruchswarnsystem für Datenleaks vor. Ziemlich spannend das Ganze, weil in der Tat historisch, biologisch usw. die Nase der Sinn war/ist, der uns zuerst suggeriert, ob/wenn Gefahr droht, ob wir jemanden mögen oder nicht, ob jemand ein geeigneter Partner ist oder nicht, was neurobiologisch ja recht einfach zu erklären und zu bekräftigen ist. Ihr Objekt allerdings wurde leider am Flughafen Schiphol in Amsterdam konfisziert und war nicht rechtzeitig frei zu bekommen, glücklicherweise hatte sie es wenigstens geschafft, was wohl auch Überredungskünste erforderte. Keine Ahnung, ob sie es vorher angemeldet hatte, was sicherlich nützlich gewesen wäre, weil das Objekt in der Tat etwas kurios anmutet und … ich brauche es Euch nicht erzählen, es sind Drähte drin in einem Plastikgehäuse und es ist nicht selbsterklärend, in diesen Tagen ist so etwas schwierig. Trotzdem – interessante Kiste, obschon ich ein Problem in der Übermittlung sehe: Wenn das Ding bei einem Datenleak oder der potentiellen Gefahr eines solchen angeworfen wird, dauert es vermutlich zu lange, bis der Duft zur Nase kommt. Von dort geht es schnell, aber – ist der ganze Prozess schnell genug, um überhaupt hilfreich zu sein? Ich würde es gerne einmal in Aktion sehen.

Ihr seht schon, ähnlich wie am Workshop-Tag überziehe ich heute in dem Blogartikel auch ganz gewaltig 😉 Ich werde splitten, für heute abschließen und Euch morgen weiter berichten vom Freitag.

Bis dahin alles Liebe und viele Grüße,

Eure Ulrike

Alle Bilder, wenn nicht anders angegeben – Copyright by Michael Haußmann.

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

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