Wie viel Neandertaler steckt in Ihnen?

Forscher sagen voraus, wie Menschen der Zukunft aussehen werden. Die gute Nachricht: Schönheitsoperationen könnten überflüssig werden.

Wie das Leben manchmal so spielt: Ich lese gerade mit großer Begeisterung die Bücher des Jasper Fforde. Der 49jährige Londoner ist zwar eigentlich Kamera-Assistent von Beruf, nebenher aber ein fantastischer Schriftsteller. Und zwar ein hartnäckiger! Sein erstes Manuskript „The Big Over Easy“ wurde von sage und schreibe 76 Verlagen abgelehnt. Für den sympathisch-bescheidenen Mann mit dem irrwitzigen Humor aber kein Grund aufzugeben. Er schrieb weiter (zum Glück!) – und landete mit seinem Buch „Der Fall Jane Eyre“ (aus dem Jahr 2001) schließlich einen Hit. Erst Geheimtipp unter Literatur-Fans, dann weltweit ein Bestseller.

In dem Buch erleben wir eine Parallelwelt, die sich von unserem Alltag gar nicht so groß unterscheidet. Nur, dass alle Menschen verrückt sind nach Literatur; Mammuts in großen Herden durch englische Vorstädte vagabundieren und Neandertaler noch leben. Letztere werden aufgrund mangelnder Intelligenz vor allem als Zugschaffner und Busfahrer eingesetzt. Ach ja: Und das Wichtigste, die herrlich ironische Hauptfigur „Thursday Next“, erlebt Abenteuer in Büchern (!) – in die kann man nämlich hineinreisen. Im ersten der bisher 5 erschienen Bände muss die Literatur-Agentin Thursday so zum Beispiel die gekidnappte Jane Eyre im Original-Manuskript von Charlotte Bronte retten… Die Bücher sind unheimlich witzig geschrieben, fordern zwar ein wenig Literatur-Kenntnis, belohnen aber dafür mit vielen großen Lachern, irgendwo zwischen Fantasy, Parodie und Krimi.

Nun lese ich also gerade diese liebenswerten Abenteuer, als in der echten Welt (um genau zu sein: In der Tagesschau) die Meldung kommt: Der Neandertaler ist ein Vorfahr des Menschen! Das ist lustig, denn in Ffordes Büchern sind die tumben Kerlchen eher possierliche Vollidioten ohne emotionalen oder intelligenten Tiefgang. Und nun das. Mein Ur-Ur-ur-Opa war also ein Neandertaler? Vor ein paar Wochen wäre das noch eine handfeste Beleidigung wert gewesen, nun ist es wissenschaftliche Tatsache. Das ist durchaus bemerkenswert, denn bisher dachten Wissenschaftler, wir würden „nur“ vom Homo Sapiens abstammen. Nun entdeckte ein internationales Forscher-Team, dass wir alle bis zu vier Prozent Neandertaler-DNS in uns tragen. Die Erklärung für diesen Umstand lautet, dass Neandertaler und Homo Sapiens sich gepaart haben müssen – und daraus entstand dann im Laufe der Evolution der moderne Mensch, also wir.

Aber was bedeutet modern eigentlich? Sind wir die Speerspitze der Entwicklung? Oder werden unsere Nachfahren einmal über uns lächeln, wie wir heute grinsend davon ausgehen, dass ein Neandertaler in unserer Zeit höchstens zum Zugschaffner taugen würde? Stellen wir uns doch die Frage, wie der Mensch der Zukunft aussehen wird. Wie viel Neandertaler wird in unseren Nachfahren stecken? Eine faszinierende Frage, denn Evolutionsforscher streiten selbst ständig und viel darüber. Manche sagen, wir hätten den Gipfel der Entwicklung bereits erreicht. So wie wir heute aussehen und leben, sind wir perfekt. (Die sollen mal Freitag Abend in der kleinen Kneipe bei mir um die Ecke vorbei kommen und meine Nachbarn am Stammtisch angucken! Da wäre evolutionstechnisch durchaus noch Raum nach oben). Sehr viel sympathischer sind mir diejenigen Forscher, die die Meinung vertreten, der Mensch wäre noch nicht am „Peak“ angekommen, sondern werden in Zukunft immer besser aussehen.

Die Schönheit der Frau in 400 Jahren – Ein Besuch im amerikanischen Städtchen Framingham

Was die Frau betrifft, so sind sich Zukunftsstudien einig. Sie wird kleiner und dicker. Sie wird früher Kinder bekommen und dafür später in die Menopause schlittern. Und sie dürfte ein gesünderes Herz-Kreislauf-System besitzen als die Frauen heutzutage. Woher man das weiß? Vor rund 70 Jahren forschten Amerikaner massiv danach, warum die meisten US-Bürger an Herzkrankheiten sterben. Herzinfarkt, Schlaganfall, Risikofaktoren, Umwelteinflüsse, Ernährung – man wollte mehr lernen über diese Krankheiten und ihre Umstände. Und startete ein einzigartiges Projekt: Die Forscher erklärten ein ganzes Städtchen zum Forschungsobjekt. Rund 5200 Bewohner von Framingham wurden 1948 zu einer Langzeit-Studie herangezogen (Männer und Frauen). Ab den 1970er-Jahren wurden die Kinder der „Testobjekte“ mit einbezogen, so dass sich die Studie bis 1999 über mehrere Generationen erstreckte. Die Resultate veränderten die Sichtweise auf Lebensstil von Herz-Patienten enorm. Die Bedeutung des Bluthochdrucks stieg, Zigarettenrauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, Depressionen und Falsche Ernährung rückten in den Fokus der Mediziner. Diese berühmte „Kohorten“-Studie lieferte nun auch Daten für die Untersuchungen des amerikanischen Evolutionsforschers Stephen Stearns. Im Auftrag der Universität von Yale verband er die Framingham-Ergebnisse mit eigenen Beobachtungen der aktuellen Bevölkerung von Massachusetts – und entdeckte, dass wir Menschen uns durchaus nach wie vor weiterentwickeln. Darwin lebt!

Wichtigste Feststellung von Stearns Forscherteam war die (zugegebenermaßen naheliegende) Beobachtung, dass die natürliche Selektion nicht wie früher auf dem Prinzip des Überlebens basiert. Seien wir ehrlich, wer von uns muss sich täglich noch da draußen gegen wilde Tiere und unzivilisierte Horden wehren? Und nein, ein fieser Chef und intrigante Kolleginnen zählen nicht! Hinzu kommen die enormen Fortschritte der modernen Medizin. Krankheiten, die früher lebensbedrohlich waren, sind heute heilbar. Wer früher an diesen Krankheiten starb, konnte sich nicht fortpflanzen. Dadurch ergibt sich ein evolutionstheoretischer Vorsprung für die Gene von Gesunden. In unserer Zeit bedeutet das: Frauen, die sich an das moderne Leben perfekt angepasst haben und medizinische Top-Leistungen erhalten, dürften rein rechnerisch mehr Kinder haben, so dass sich immer noch die gesünderen Gene durchsetzen. Bei ihrer Framingham-Analyse suchten die Forscher nach Eigenschaften, die bei kinderreichen Frauen gehäuft auftreten – und wurden fündig! Durchschnittlich sind diese Frauen etwas kleiner, von kräftigerer Statur und hatten einen niedrigeren Cholesterin-Spiegel sowie einen niedrigeren Blutdruck. Sollte sich die Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten nicht groß ändern, bedeutet das: Die Frauen der Zukunft werden bis zum Jahr 2400 circa 2 Zentimeter kleiner sein als der Durchschnitt heute, 1 Kilo schwerer, ihr erstes Kind 5 Monate früher bekommen und erst 10 Monate später in die Menopause kommen. Für die deutsche Frau übersetzt heißt das: Im Schnitt wird sie 1,65 m groß und 67,5 Kilo schwer sein. Klingt doch sehr gut, oder?

Und wie sieht der Mann bald aus?

Angesichts der rasanten technologischen Weiterentwicklung könnte man meinen, Männer entwickeln sich ebenfalls stetig. Mit Ötzi, dem Südtiroler Steinzeitmann, verbindet den Kerl von heute nichts mehr. Statt einer Keule schleppt der moderne Mann die Kreditkarte umher, um seine Familie zu ernähren. Statt zu Fuß die Alpen zu überqueren, steigt er in ein Flugzeug. Alles sehr modern, ja. Und größer werden die Männer doch auch, ein schlagender Beweis für Entwicklung. Im Schnitt überragt ein Jugendlicher heute seinen Urgroßvater bereits um 20 Zentimeter. Forscher sagen aber, das sei kein Evolutionsbeweis, sondern schlichtweg das Resultat besserer Ernährung. Ein ungleich höherer Eiweißanteil in der täglichen Nahrungszufuhr sorgt für mehr Wachstum und frühere Geschlechtsreife. Und würde man einen modernen Mann auf seine Neandertaler-Vorfahren treffen lassen, würde er unweigerlich den Kürzeren ziehen. Peter McAllister, Autor des Buches „Manthropology: the Science of Inadequate Modern Man“ hat es sehr schön auf den Punkt gebracht: Arnold Schwarzenegger hätte beim Armdrücken keine Chance gegen eine durchschnittliche Neandertalerin. Würde die eiweißreiche Nahrung wegfallen, wäre Schluss mit dem imposanten Größenwachstum. Denn so wirklich weiterentwickelt haben sich die Menschen eben doch nicht. Von der genetischen Anlage her sind die ersten anatomisch modernen Menschen, die vor 40.000 Jahren Europa besiedelten, und der Kerl von heute nun mal identisch. Aber ist der Mann von heute nicht schlauer als sein Vorfahr? Und wird der Traumprinz von morgen nicht noch mal intelligenter sein? Nein, sagen Forscher. Zwar beschleunigt sich das Wissenswachstum der gesamten Menschheit enorm – heute verdoppelt sich das Wissen der Menschheit alle fünf Jahre, zur Zeit unserer Urgroßeltern passierte das nur alle 100 Jahre. Aber: Der einzelne Mensch degeneriert eher. Oder können Sie einen Fisch jagen, ein Reh ausnehmen, ein Haus bauen, Feuer machen und selber Waffen bauen? Eben. Heute sind wir eine Gesellschaft von hochspezialisierten Denkern, jeder kann ein bisschen was, keiner kann sehr viel. Unser großer Vorteil ist das moderne Netzwerk, das wir aufgebaut haben und von dem wir profitieren. Für jedes Problem und jede Hürde gibt es einen Profi in unserer Nähe, den wir beauftragen können. Wir haben verlernt, autark zu sein.

Diese Entwicklungen werden auch das Aussehen der Männer in Zukunft stark beeinflussen. Bester Beweis: Die Weisheitszähne. Früher brauchten wir sie zum Zermahlen von harter Nahrung. Heute? Sind sie überflüssig geworden, lästig und oft genug sogar schmerzhaft. Aber da gibt es ja zum Glück den Zahnarzt, der schnell Abhilfe leisten kann. Und überhaupt: Ärzte beeinflussen die Entwicklung der Menschheit weiterhin enorm. Die natürliche Selektion wird durch neuzeitige Hilfsmittel beeinträchtigt. Beispiel Kurzsichtigkeit. Ein Steinzeitjäger, der (wie ich übrigens) mit -20 Dioptrien auskommen muss, hätte ein Problem gehabt sich fortzupflanzen. Denn wer halblind hinter einem Säbelzahntiger herläuft, überlebt nicht lange. Heute besorgt sich der Betroffene eine Brille, fertig… und spätestens seit der Erfindung der Kontaktlinsen erschwert Kurzsichtigkeit die Partnerauswahl auch nicht mehr wirklich. Das medizinische Leistungsspektrum verschiebt sogar die Alterungsphasen nach hinten. Soll heißen: ein 60jähriger wird demnächst noch voll aktiv und gesund im Leben stehen, wie heute ein 40jähriger. Damit verschiebt sich auch das Schönheitsideal. Heute sind Jugendliche (und daraus resultierend der Jugendwahn) im Fokus des Schönheitsempfindens. Schon in hundert Jahren werden aber ältere Menschen attraktiver auf uns wirken. Im Grunde wird sich das Schönheitsideal spalten. Einmal die schöne Jugend, dann aber eine neue, zweite Blüte – der Mensch mit 60 wird noch als schön anerkannt, sein Leben ist nicht über den Zenith hinaus, sondern nimmt ein zweites Mal vollen Anlauf.

„Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft vorauszusagen, sondern gut auf sie vorbereitet zu sein.“
Perikles (490 – 429 v. Chr.)

Bei allen Überlegungen, wie der Mensch in der Zukunft aussehen mag, bleibt bei mir im Kopf eigentlich vor allem ein Gedanke: Früher oder später wird es Zeit, dass die Gesellschaft einen neuen, unkomplizierten Umgang mit Schönheit lernt. Gehen wir – wie gerade erörtert – davon aus, dass wir alle länger leben, der Medizin sei Dank. Aber, dann müssen wir lernen, „alt“ sein nicht mehr zu stigmatisieren, sonst steuern wir auf eine Gesellschaft der Unzufriedenen zu. Stellen Sie sich nur vor: Wenn alle Menschen immer älter werden, aber nicht so aussehen wollen! Es ist doch allemal angenehmer umzudenken und ein neues Schönheitsideal zu suchen, als mit 100 Jahren noch krampfhaft aussehen zu müssen wie 30.

Und wenn wir schon bei der Medizin sind: Wozu all die Schönheits-Ops noch? Alle Menschen wünschen sich, die Ansprüche der Gesellschaft an ihr Aussehen bestmöglich zu erfüllen, die moderne Medizin und die Wirtschaftskraft jedes Einzelnen ermöglichen dies sogar. Nasen-Korrekturen, Brustvergrößerung, Fettabsaugung, Lifting. Wir kommen alle ohne Probleme an die makellose Norm der Schönheit heran. Aber was dann? Wenn wir alle uniform aussehen, also gleich schön, wie wertvoll wird diese Schönheit dann noch sein? Werden in der Zukunft nicht die kleinen „Makel“ unter denen wir heute ach so leiden plötzlich wieder liebenswert, weil sie uns besonders machen?

Würde ich morgen der Jane Eyre von 1847 begegnen, wie sie in den Büchern des Jasper Fforde lebendig ist, würde ich ihr sagen: „Gucken Sie nicht so erschreckt. Aufgespritzte Lippen und Botox-Partys sind nur eine kurze Phase, von der wir uns erholen werden. So wie die Frauen sich seit Ihrer Zeit von Mieder und Korsett befreit haben.“ Denn egal, was die Evolution für uns noch bereit hält, von einem bin ich überzeugt: Schönheit wird mit der Zeit wieder entspannter werden. Gute Cremes mit potenten Wirkstoffen, ja. Jugendwahn und maßlose Schönheits-Chirurgie, nein. Und in meinem Fall: Ich liebe meine kleine Neandertaler-Nase, die ich nun mal habe. Wenn das meine Reminiszenz an unsere Ur-Ur-Ur-Vorfahren ist, bin ich damit vollauf zufrieden.

Ihr Constantin Herrmann.

Bildquelle: Neandertaler von Stefan Scheer und Vitruvian Man von Leonardo da Vinci – some rights reserved. Vielen Dank!

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Constantin Verfasst von:

Ein Kommentar

  1. Martina Weber
    10. Juni 2010
    Antworten

    Genau DAS wollte ich heute morgen lesen : Ich _bin_ schon die „Frau der Zukunft“ – zumindest, was Größe + Gewicht betrifft. Sogar der Zu-Zukunft… grins…

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