Amouages neues Duo Portrayal hat den Bohemien …

… zum Thema, ein, wie man meinen möchte, allseits beliebtes Motiv in der (Nischen)Duftbranche, aber nicht nur in dieser … Kinder der Nullerjahre oder später Geborene sind sich oft dessen nicht bewusst, dass mit dem Begriff der Bohème nicht zwangsläufig nur der Einrichtungs- oder Kleidungsstil der letzten Jahre, des letzten Jahrzehnts gemeint ist. Der Begriff Bohemien, heute gerne mal für ein bestimmtes Klientel verwendet, geht genauso wie der Boho-Stil als solcher zurück auf die Bohème-Bewegung, die sich um die Jahrhundertwende, vor allem aber ab den Zwanzigerjahren in diversen Ländern entwickelte. Wäre sie nicht so spannend und ihre Motivation, ihre Charakteristika nicht so universell, würde die Bohème vermutlich nicht so oft zitiert werden, egal ob in Kunst, Kultur, Alltag oder ähnlichem. Wiki fasst mal wieder perfekt zusammen zwecks Definition und Anfang der Bohème:

„Der Begriff Bohème oder Boheme bezeichnet eine Subkultur intellektueller Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer und musikalischer Aktivität oder Ambition und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen. Die Bohème ist dabei keine ästhetisch-kritische, sondern eine sozialgeschichtliche Kategorie.

Diese Art zu leben ist vor allem in Künstler­kreisen, wie zum Beispiel bei Malern, Dichtern und Literaten, aber auch bei Studenten verbreitet. Bürgerliche Töchter und Söhne verweigerten sich oft den Normen und Gepflogenheiten ihres Elternhauses und ihrer Klasse und lebten das Leben eines Bohémiens, das häufig als authentischer, eigenständiger, ursprünglicher und weniger entfremdet erlebt wurde.

Die Motive und Hintergründe für einen solchen Lebensstil sind vielfältig. Der Wunsch, die bürgerlichen Werte und Normen, die als einschränkend erlebt werden, zu überwinden, oder der Wunsch nach Identitäts­findung, Selbstverwirklichung und kreativer Freiheit können ebenso eine Rolle spielen wie ein exzentrisches Wesen, jugendliche Auflehnung gegen die Elterngeneration, Entfremdungs­erfahrungen und Gesellschafts- oder Kulturkritik – und natürlich die leidenschaftliche Hingabe an die Kunst, selbst wenn sie nicht zum Broterwerb reicht.“

Des Weiteren ist recht spannend, wie sich der Begriff entwickelte. Er stammt ursprünglich aus dem Frankfreich des 15. Jahrhunderts, das mit bohémien auf die aus Böhmen stammenden Roma abhob. Was irgendwann einmal wohl eine reine Herkunftsbezeichnung war, bekam im Folgenden eine abwertende Konnotation – der Begriff des Bohemien wurde nicht nur dazu genutzt, Sinti und Roma zu diskreditieren, sondern diente darüber hinaus auch als Bezeichnung für Menschen, denen man Verrohung, Sittenverfall und so weiter unterstellte, gerne natürlich beispielsweise auch Prostituierte, Ihr könnt es Euch denken.

Eine Aufwertung des Begriffes beziehungsweise auch Wandlung folgte erst ab circa der Mitte des 19. Jahrhunderts, siehe Wiki:

„In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfuhr der Begriff unter Einfluss des Rousseauismus und der Entbürgerlichung der Künstler eine Aufwertung. Helmut Kreuzer notiert: „Seit der Romantik belegte figurative Verwendung von le bohémien zur Selbstbezeichnung von Künstlern (nicht zuletzt Schriftstellern) mit unbürgerlichem Selbstverständnis.“ Das Deutsche kennt seit den 1830ern analoge Bildungen wie „Dichtervagabund“, „Literatur- und Kunstzigeunertum“. In England wird bohemians erstmals 1848 bei Thackeray verwendet.

Als Bezeichnung für unbürgerliche Künstler- und Autorengruppen ist das Lehnwort Bohème (auch Boheme oder Bohême) im Deutschen seit den 1860er Jahren belegt, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr durch und wurde schließlich auch rückwirkend auf Autoren vor dieser Zeit angewandt (Heinrich Heine, E. T. A. Hoffmann, Max Stirner, Christian Dietrich Grabbe).“

Und was macht ihn aus, den Bohemien? Wenn man obiges liest, könnte man auf die Idee kommen, dass es sich um eine reine Anti-Haltung handelt – da fällt mir eines meiner Lieblingszitate von Kierkegaard ein: „Das Große ist nicht, dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein.“ Gegen etwas zu sein, kann notwendig sein, befreiend. Im reinen Contra zu verharren, dem Nein verhaftet, und darauf nicht aufzubauen – das ist auf Dauer nichts, vorsichtig formuliert. Das betrifft selbstredend jeglichen Lebensbereich, nicht nur den der Selbstfindung, der Selbstwerdung, auf den es Kierkegaard bezog.

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Ein Grund, weshalb sich der Bohemien so großer Beliebtheit erfreut und gleich einer Mode in Wellen immer wieder in unterschiedlichen Bereichen zu unterschiedlichen Zeiten „hochgespült“ wird, ist meines Erachtens nach sicherlich seine universelle Zielrichtung, seine Merkmale: individualistische Bestrebungen (die, mal mehr und mal weniger erfolgreich sind, siehe oben – einfach nur dagegen sein macht noch keine Persönlichkeit), Abkehr von bürgerlichen „Normen“ oder „Wert“vorstellungen. Daraus resultierend gerne auch die Abkehr von herkömmlicher Arbeit oder Berufen, was mitunter im Hungerleidertum des Künstlers resultiert, siehe den Wowi-Slogan über Berlin, „arm, aber sexy“. Großstadtleben gehört selbstredend dazu genauso wie das Sich-Tummeln unter Gleichgesinnten, damals in Caféhäusern. Hört sich bekannt an? Yep. So oder so ähnlich sahen und sehen das diverse Subkulturen, sei es in den Zwanziger-, Dreißigerjahren oder in den Sechziger-, Siebzigerjahren.

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Ein Bohemien fällt mir natürlich sofort ein – Else Lasker-Schüler, die sich definitiv zu lesen lohnt, ich liebe ihre Lyrik. Bukowski kann man sicherlich als Bohemien sehen, viele der Beatniks ebenfalls. Auf Dora Maar, langjährige Picasso-Geliebte und -Muse, trifft der Begriff bestimmt auch zu – und ihr Kleidungsstil passte perfekt, hüllte sie sich doch oft in orientalische Gewänder und trug Federn im Haar.

ElseLaskerSchüler1907
Else Lasker-Schüler (1907) – Fotograf unbekannt. [Public Domain via Wiki Commons]
Christopher Chong, Kreativdirektor bei Amouage, lässt selbstverständlich wie immer etwas zu den Hintergründen der Duftschöpfungen verlauten: „The bright young things“, die Bohemiens der Zwanzigerjahre hatte er im Sinn, wie schon erwähnt. Bei Ça Fleure Bon ist folgendes Zitat zu lesen: „A person who dares to defy the norms of their society, Portrayal is for the bold“, so Chong. “It is inspired by times of dramatic social change and the people who pushed beyond the limits of mass culture during their times. It is a reflection of the birth of a new age and the freedoms that come with it.”

„Portrayal is for the bold“ – was für ein schöner Satz, was für ein schönes Wort, bold!

Ein separates Filmchen zum Duft gibt es (noch?) nicht, obschon das eigentlich bei so gut wie jedem der letzten Düfte des Hauses Amouage die Regel war. Dafür habe ich ein Interview mit Chong gefunden zu seinem Portrayal-Duo:

Und wie duften sie nun, die beiden neuen Schönheiten? Das erfahrt Ihr am Mittwoch, meine Lieben!

Bis dahin alles Gute und viele herzliche Grüße

Eure Ulrike

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Ulrike Knöll Verfasst von:

Meine Liebe gilt seit jeher dem Ästhetischen: Mir geht das Herz auf bei jeglichen Dingen, die durch Form, Funktionalität, Design und Herzblut zu überzeugen wissen. Und wenn dann noch ein Quäntchen Historie dazu kommt, ist es meist ganz um mich geschehen … Ich bin der Nischenparfümerie mit Haut und Haaren verfallen und immer auf der Suche nach dem – oder vielmehr: einem – neuen heiligen Gral. Diese Suche sowie mein ganzes Interesse und meine Begeisterung möchte ich gerne mit Euch teilen!

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